In der Heilig-Kreuz-Kirche gibt es seit 2023 einen Seelsorgeraum. Er ist ein bisschen versteckt neben der Küche, wo vorher eine Abstellkammer war. Der Raum ist klein, aber fein, im wunderschönen alten Gemäuer dieser Kirche.
Wer schon mal in der Heilig-Kreuz-Kirche war, der hat die Kirche vielleicht so erlebt wie ich: lebendig, trubelig und eigentlich ständig im Umbau – vielleicht das Gegenteil von ruhig. Ich schätze das unfassbar und finde es toll, dass dieser Kirchraum mitten im Kiez so mit Leben gefüllt ist und dass so viele Gruppen und Veranstaltungen dort Platz finden. Ich finde, dass die Wuseligkeit in der Kirche auch ein Symbol ist für die vielen tatkräftigen Menschen und ihr großartiges Engagement in den letzten Jahrzehnten, das zum Aushängeschild der Gemeinde wurde.
Ich selbst bin gerne aktiv, mich bestärkt es, Dinge konkret anzugehen und umzusetzen. Deshalb bin ich so gerne Pfarrerin in dieser lebendigen Gemeinde.
Und gleichzeitig sehne ich mich oft nach Ruhe, nach Rückzug und Luftholen. Das fällt mir manchmal schwer -, gerade wenn ich mich in der Heilig-Kreuz-Kirche aufhalte. Sich in Ruhe hinsetzen, innehalten und beten, das ist in der Heilig-Kreuz-Kirche für mich nur selten möglich.
Der Seelsorgeraum soll so ein Raum mitten im Gewusel sein. Ein Raum für Rückzug, Stille und Innehalten. Nicht als Gegenentwurf zur Lebendigkeit, sondern als die andere Seite der Medaille, die lebendig macht. „In der Ruhe liegt die Kraft“, dieses uralte Sprichwort birgt diese Weisheit. Kraft kommt nicht nur vom Tun, sondern auch vom Lassen. In der christlichen Tradition wurde immer schon versucht, die Balance zwischen „Vita Activa“ (aktives Leben) und der „Vita Contemplativa“ (betrachtendes, beobachtendes Leben) zu finden. In Evangelischer Tradition geht der aktiven Nächstenliebe sogar stets die Gottesliebe voraus, die sich nicht erarbeiten, sondern nur empfangen lässt.
In der chinesischen Tradition sind Yin und Yang diese zwei Seiten, die in Balance gebracht werden sollen. „Yin“ steht hier für Ruhe und passives Empfangen, „Yang“ für das aktive Geben. Beim „Yin Yoga“ bleibt man zum Beispiel viele Atemzüge in einer Position, um dort Ruhe und Kraft zu empfangen.
Seelsorge bewegt sich stets an dieser Schwelle von Empfangen und Geben. In der Seelsorge begegnen sich Menschen, die füreinander Seelsorgende werden – im Glauben daran, dass Gott dabei ist. Sowohl die Person, die Seelsorgende ist, als auch die, die Seelsorge empfängt, sind Empfänger*innen der Liebe und Gerechtigkeit Gottes. Wo Menschen sich in diesem Bewusstsein aneinander wenden, entsteht ein Seelsorgeraum.
Für diesen Seelsorgeraum braucht es natürlich keine Wände und kein Dach. Seelsorge kann es überall geben, wo Menschen sich in Freude und Leid aneinander wenden und sich begleiten. Das kann auch beim Einkauf im Supermarkt oder an einer Türschwelle passieren.
Aber manchmal hilft es, einen physischen Raum zu haben. Denn wo ein Raum sichtbar ist, da ist sichtbar, dass das Bedürfnis nach Seelsorge Raum hat. Dass es wichtig und gut sein kann, sich an jemanden zu wenden und dafür einen bestimmten Ort aufzusuchen. Außerdem gibt ein Raum einen akustischen und visuellen Schutz, so dass nur diejenigen das Gespräch mithören und sehen, die es sollen.
Ein weiterer Schutzraum für die Seelsorge ist das Seelsorgegeheimnis und die Schweigepflicht, der jede:r Seelsorger:in unterliegt. Selbst vor Gericht muss eine seelsorgende Person dieses Geheimnis wahren. Das ist so, damit sich Menschen sicher sein können, dass sie denen, denen sie sich anvertrauen können, vertrauen können.
So entsteht ein Raum, in dem Menschen in aller Ruhe sein und etwas aus ihrem Leben teilen können, im Vertrauen darauf, dass dieser Raum von Gott bereitgestellt wird. Nicht mehr und nicht weniger ist für mich Seelsorge.
Der Seelsorgeraum in der Heilig-Kreuz-Kirche ist offen für alle Menschen, die ein Bedürfnis nach Seelsorge haben. Wir haben in der Gemeinde viele Menschen, die seelsorglich ausgebildet sind, zum Beispiel die Diakon:innen, Küster:innen, Gemeindepädagog:inen und Pfarrpersonen. Sie alle sind fest
bei der Kirche angestellt und werden dafür bezahlt, dass sie für Seelsorge Zeit haben. Darüber hinaus ist jede:r Christ:in Seelsorger:in. Da jeder Mensch die Liebe und Gerechtigkeit Gottes empfängt, ist jede:r befähigt, sie weiterzugeben – natürlich unter der Voraussetzung, dass man das selbst möchte und sich in der Lage dazu fühlt.
Das finde ich auch eine große Stärke eines Raumes: Ein Raum wird durch seine Grenzen definiert. Bei jeder seelsorglichen Begegnung öffnet sich ein Raum, der begrenzt ist - durch die Mauern, in denen man sitzt. Durch die psychische und physische Konstitution der Beteiligten. Durch die Zeit, die zur Verfügung steht. Der Raum öffnet sich und schließt sich auch wieder. Vielleicht macht das auch den Zauber der Seelsorge aus, dass sie einen Anders-Raum aufmacht, der das Leben im Alltag befreiter, ruhiger und leichter macht.
Pfarrerin Lena Moers